Die Familie Winzeler
Für das Abendmahl werden in unserer Gemeinde normalerweise am 1. Sonntag des Monats 3 Kelche, 3 Krüge und der Behälter der kleinen Einzelbecher verwendet. Es gibt aber, was die meisten Besucher nicht wissen, noch weitere Kelche und Krüge für das Abendmahl. Zwei davon sind kostbare Gefässe aus Silber, mit einer eingravierten Widmung, die höchst eigenartig abgefasst ist. Inmitten einer zierlichen Umfassung steht geschrieben:
Eigenthum der Kapelle in Storzeln
Diese Inschrift hat meine Neugier geweckt und was ich recherchiert habe möchte ich Euch nun mitteilen. Storzeln liegt geographisch gesehen auf den Koordinaten 47.77°N 8.72°O, ungefähr 6 km nördlich von Thayngen und der Schweizergrenze in Baden-Württemberg. Es ist ein Hofgut mit einer grossen Vergangenheit:
«Im Jahre 1382 wurde der Hof erstmals urkundlich erwähnt und ging damals von Heinrich von Roggwil an das Kloster Münsterlingen über, das Storzeln an Jakob Rüpplin von Frauenfeld veräusserte. Der Hof kam anschließend in den Besitz des Franz Josef Kripp von Freudeneck, dessen Tochter Maria Franziska Theresia ihn 1730 in die Ehe mit Johann Alexander von Freiberg-Wellendingen einbrachte. Ihre Schwiegertochter Maria Johanna von Imhof verkaufte Storzeln an Maria Xaveria von Hornstein in Binningen, von deren Nachfahren wurde 1849 der Hof Storzeln an Johann Winzeler aus Barzheim verkauft. Um 1900 errichtete Winzeler eine Spinnerei und Tuchfabrik in Storzeln, die bald wieder einging und veräusserte den Hof an die Tuchfabrik an Herrn von Patow. 1916 kaufte die Stadt Stuttgart Storzeln für 35 000,- Goldmark um die Milchversorgung Stuttgarter Krankenhäuser sicherzustellen.»
Soweit die Angaben aus der Homepage des jetzigen Besitzers des Hofgutes. Heute ist in Storzeln eine Reitschule mit Islandpferden angesiedelt.
Zurück nun zum Abendmahlskelch: das Wort «Eigenthum» zeigt auf, dass der Schriftzug vor 1890 geschrieben sein musste. Das «-thum» wurde nach Duden um 1901 in «-tum» abgeändert. Es ist anzunehmen, dass die Abendsmahlkelche der Familie Winzeler gehörten, aber warum sind diese nun in Bern?
Wer war dieser Johannes Winzeler? Welche Bedeutung hat er für die FEG Bern?
In unserem Archiv stöberte ich herum und fand überraschend viele Angaben über Winzeler. Carl von Rodt, der Prediger der ersten Stunden der Berner Gemeinde, beschreibt Winzeler als einen gründlich bekehrten Menschen, der sich durch frommen Wandel, natürliche Beredsamkeit und grosse Bibelkenntnis auszeichne. In der Broschüre «Aus früheren Tagen. Ein Beitrag zur Geschichte der freien evangelischen Gemeinden in der Schweiz», zusammengestellt von Wilhelm Meili habe ich die folgenden Angaben entnommen:
«Johann Winzeler wurde am 15. August 1815 in Barzheim bei Thayngen geboren. Als gottesfürchtiger Jüngling zog er, seines Berufs Schreiner, in die Welt hinaus, erlebte in den Kreisen der damals besonders lebendigen Berner Gemeinden seine Wiedergeburt und beteiligte sich bald darauf auch persönlich bei der Wortverkündigung. Verschiedenen Berichten zufolge war er nicht nur ein ausnehmend starker und tüchtiger Arbeiter, sondern auch hervorragend mit geistigen und geistlichen Gaben ausgerüstet, so dass er in den Kreisen der Gläubigen bald eine führende Stelle innehatte.»
Schon 1834 evangelisierte Johann Winzeler im Auftrag der Berner Gemeinde in der Thunergegend, in Steffisburg und Homberg, aber auch in Burgdorf. In der damaligen Zeit war das Evangelisieren vielmals nur unter grossen Beschwerden möglich, so lesen wir in einer anderen Quelle. «Unsere Vorfahren erduldeten um ihres Glaubens willen schwere Verfolgungen von Kirche und Staat. Von daher – nicht von unserer Seite – rührt eine noch oft wahrnehmbare Spannung zwischen der Staatskirche und den freien Gemeinden. Einst wurde einer der Väter und Gründer der Gemeinde im Kanton Bern arretiert wegen der ihm verbotenen Predigt des Evangeliums. Zwei Gendarmen transportierten den baumstarken jungen Prediger ins weit entfernte Bezirksgefängnis. Nachdem sie unterwegs den Charakter des Gefangenen kennen gelernt hatten, entledigten sie ihn zwar der Fesseln, lieferten ihn aber pflichtgemäss am Abend, vom Regen durchnässt und hungrig wie er war, dem Gefängniswärter ab. Dieser, von besonderer Bösartigkeit, sperrte den armen Gefangenen ohne Abendbrot in einen hohen windigen Turm, wo er in seinen nassen Kleidern sehr von der Kälte litt. Um ihn in seiner hilflosen Lage wegen seines Glaubens zu verspotten, kam er dann mehrere Male und fragte: «Winzeler, wie geit’s?». Der Gefangene antwortete zuerst stets fröhlich: «Gut». Endlich, etwa um Mitternacht, da ihm bereits die Zähne vor Frost klapperten, musste er sich fest zusammennehmen um noch einmal bezeugen zu können, dass es ihm als einen Knecht Gottes auch in Banden gut gehe. Aber da war auch das Eis beim Wärter gebrochen, denn: «Wo die Not am grössten, da ist Gott am nächsten». Er nahm den Gefangenen in seine warme Stube, liess im Kaffee kochen und behandelte ihn von da an menschlich.» Etwas später wurde Winzeler verurteilt und sass ein Jahr als Gefangener in Thorberg und wurde anschliessend lebenslänglich aus dem Kanton verwiesen.
«Nach diesen Wanderjahren kehrte er in seinen Heimatsort zurück, verheiratete sich mit Anna Grimmi und erwarb dann das über der deutschen Grenze liegende Hofgut Storzeln, das er mit rastlosem Fleiss und grosser Sachkenntnis buchstäblich aus dem Sumpf zog. Aber neben seinem bürgerlichen Beruf predigte er unermüdlich das Evangelium und wurde der geistliche Vater vieler Seelen. Die heutigen Gemeinden Thayngen, Wilchingen und Winterthur gehen in ihren Anfängen auf seine Tätigkeit zurück. Johann Winzeler starb 1863 im 48. Lebensjahr und hinterliess eine Witwe mit 8 Kindern; der älteste Sohn war erst 17jährig. Das war ein harter Schlag für die Familie und für die Gemeinde.»
Johannes Winzeler muss eine eindrückliche Person gewesen sein, denn er wird mehrmals in den alten Schriften nicht nur unserer Gemeinde, sondern auch in Publikationen des Vorgängers des Bundes der FEG genannt. Im Jubiläumsbuch „750 Jahre Barzheim“ sind auch Fotos von Johannes und Anna Winzeler mit ihrer Kinderschar zu finden:
Familienfoto
Johannes Winzeler
Anna Winzeler
In der FEG Broschüre «Lebenszeichen aus den freien evangelischen Gemeinden der deutschen Schweiz» aus dem Jahre 1895 lesen wir:
«Nach 1863 folgten in Storzeln auch wirklich eine Reihe von mageren Jahren, aber sein Werk liess der Meister nicht liegen. Die Oxfordbewegung (1875) brachte einen neuen Aufschwung verbunden mit viel Segen für die Storzelergemeinde.»
Aus der gleichen Quelle ist von einer aussergewöhnlichen Evangelisation, die vom 28. April bis 4. Mai 1895 stattfindet, die Rede.
«In Storzeln bei Schaffhausen arbeiten die Brüder Tschopp und Meili in Dreifacherweise. Die Vormittagsstunden wurden einem Bibelkurs für Jünglinge und Töchter gewidmet. Die Hauptgedanken wurden den jungen Leuten in die Feder diktiert. Nachmittags wurde der Epheserbrief in Bibelstunden erklärt und am Abend war Evangelisation. Jeder Teil der Arbeit hatte seinen besonderen Segen. Jung und Alt freute sich der Vertiefung ins göttliche Wort und manches Sünderherz wurde erweckt. Die Storzelergemeinde ist eigentlich eine einzige patriarchalische Familie, zu welcher etwa 100 Personen gehörten. Und aus dieser verhältnismässig kleinen Zahl erweckte der Herr mehr als 12 Seelen, zum Teil ganz junge, zum Teil alte, die sich bereit erklärten, von nun an dem Heiland nachzufolgen. Die Storzelerbrüder Johannes und Jakob Winzeler (Söhne des Johannes Winzeler, der 1863 gestorben ist) haben ein grosses Opfer gebracht, indem sie jeden Tag die Arbeit in der Fabrik und auf dem Felde unterbrachen (!), um jedem Arbeiter Gelegenheit zu geben, das Wort Gottes zu hören, aber der Herr hat diese Opferwilligkeit für seine Reichssache auch gesegnet.»
An der Winterthurer Konferenz vom 28. Oktober 1895 wurden die beiden Brüder Winzeler als Vertreter von Storzeln und Winterthur in das Ostschweizer Evangelisations- und Missionskomitee gewählt. Im Frühjahr 1906 ist Jakob Winzeler in Storzeln heimgegangen. Johannes Winzeler, der Jüngere war lange Zeit Ältester in der FEG Winterthur und wie sein Vater ein begnadeter Redner. Im Vorfeld des 1. Weltkrieges musste die Familie Winzeler das Hofgut Storzeln, mit Ausnahme des Friedhofes, verkaufen. Der Friedhof ist bis heute im Besitz der Familie. Mit dem Verkauf des Hofgutes ging eine lange Tradition zu Ende, denn das Hofgut spielte in den Ostschweizer FEG-Gemeinden eine herausragende Rolle. Immer wieder wurden dort Konferenzen und Tagungen abgehalten und die Brüder Winzeler prägten die Winterthurer Gemeinde stark.
Nach dem Verkauf zogen die Brüder Jakob und Hermann (Söhne des Johannes) mit ihren Familien nach Bern und mit ihnen kamen wahrscheinlich auch die beiden Kelche in unsere Gemeinde. In den Protokollen der Diakonie-Sitzungen 1914 bis 1925 ist unter der Rubrik Aufnahme resp. Übertritte vom 15. März 1916 zu lesen, dass ein Jakob Winzeler und seine Frau Anna, wohnhaft am Brunnadernweg 30a zugereist sei. Eine offizielle Mitgliederaufnahme fand aber nie statt. Im Mitgliedbuch ist kein Jakob Winzeler aufgeführt! Obwohl Jakob Winzeler über 10 Jahre als Vorsteher der FEG Bern tätig war.
Jakob und Anna Winzeler
Hermann und Lydia
Winzeler-Meili
Im Gegensatz zu seinem Bruder Hermann. Im Protokollbuch steht unter Neuanmeldungen vom 15. Mai 1917, dass Hermann und Lydia Winzeler-Meili, wohnhaft an der Gartenstrasse 3 als Glieder zugereist seien. Im Mitgliedbuch der FEG Bern angelegt durch Prediger P. Maurer findet man unter der Nummer 51: Winzeler-Meili Hermann, Kaufmann, geboren am 17. Juli 1880 in Storzeln/Baden, Heimat Barzheim/SH, Tag der Aufnahme in die FEG 20. Mai 1917, und unter der Nummer 52: Winzeler-Meili Lydia, Hausfrau, geboren am 9. Februar 1889 in Ennenda/GL, Heimat Barzheim/SH, Aufnahme in die FEG 20. Mai 1917.
Unter der Nummer 121 ist eine Gertrud Winzeler, geboren 23. Juni 1914 in Storzeln/Baden und später unter 155 Esther Winzeler, geboren 15. Juli 1915 in Storzeln/Baden erwähnt. Diese Beiden sind die Töchter von Hermann Winzeler und sind immer noch Mitglieder unserer Gemeinde und leben in der Seniorenresidenz Villa Serapta des Salems.